| Gruselgeschichten
Silberbein
In einem tiefen dunklen Wald befand sich ein altes halb
verfallenes Schloss. Seit vielen Jahren lebte darin ein alter Graf
mit seinem Diener. Der Graf hatte ein Silberbein und sein Diener
ein Holzbein.
Eines Tages starb der Graf. Der Diener, der dem Grafen jahrelang
treu gedient hatte, jedoch nicht sehr viel Lohn dafür bekam,
dachte sich nun: "Der Graf braucht sein Silberbein nicht mehr,
aber mir kann es noch nützen und für die jahrelangen
Dienste wäre das ein gerechter Lohn!". Also tauschte er
kurzerhand sein Holzbein gegen das Silberbein aus.
Als es Nacht wurde, verschloss der Diener wie immer alle Fenster
und Türen des Schlosses. Etwas unheimlich war ihm ja nun schon
zumute. Niemand weit und breit, nur das Rauschen des Waldes, das
Knistern des Kaminfeuers und hin und wieder das Heulen eines Wolfes
in der Ferne.
Der Diener legte sich ins Bett und schlief alsbald ein. Um
Mitternacht schreckte der Diener plötzlich auf. Hatte er nicht
etwas gehört? Ja! Jetzt hörte er es ganz deutlich. Ein
erst leises, dann immer besser hörbares Tock-Tock-Tock. Dieses
Geräusch kam näher und näher und näher...
Dem Diener wurde ganz anders. Wer mag da draußen sein? Er
hatte doch alles verschlossen! Oder doch nicht? Ohje - jetzt
hörte er eine Stimme. "Wo ist mein Silberbein ! Wo ist
mein Silberbein !" es war die Stimme des verstorbenen Grafes.
Eigentlich sollte der ja in seiner Gruft im Schlosskeller liegen.
Dem Diener wurde ganz anders. Doch so schnell wie der Spuk begonnen
hatte, so schnell war er vorüber.
Gleich am nächsten Tag, nach einer sehr unruhigen Nacht und
schaurigen Träumen, permanent verfolgt vom alten Grafen,
machte sich der Diener daran, alle Schlösser zu erneuern und
alles zu sichern. Besonders sorgfältig wurden die Türen
zur Gruft und Keller abgeschlossen und verriegelt.
Mit einem etwas unwohlen Gefühl legte sich der Diener
abends in seiner Kammer unterm Dach ins Bett. Und es geschah
wieder. Genau um Mitternacht wurde er wieder von einem sich
nähernden Tock-Tock-Tock-Geräusch geweckt. Die Schritte
kamen näherund näher und blieben genau vor seiner Kammer
stehen.
Schweißgebadet lag der Diener in seinem Bett. Jetzt
bewegte sich die Türklinke langsam nach unten. Ganz deutlich
hörte er nun auch die vertraute Stimme des Grafen: "Wo
ist mein Silberbein ! Wo ist mein Silberbein ?" Der Diener
bekam fast einen Herzstillstand. Die Decke übers Gesicht
gezogen rührte er sich nicht. Plötzlich viel die Tür
ins Schloss und der Spuk war wieder zu Ende. Erleichtert atmete der
Diener auf.
Lügen haben kurze Beine
Eines Nachts – ich
muß so um die 20 Jahre alt gewesen sein – ging ich zu
Fuß die paar Kilometer zwischen Gevenich und Faid durch den
Wald nach Hause. Ich kam von einem Junggesellenfest und hatte schon
das ein oder andere Bier zuviel getrunken, war also nicht mehr der
sicherste auf den Beinen. Da aber Vollmond war, sah ich noch recht
viel und kam auch ganz gut voran. Bis zu diesem Tage machte es mir
nichts aus, alleine und noch dazu nachts durch den Wald zu gehen...
Ich hatte schon mehr als die Hälfte meines Weges
zurückgelegt, da hörte ich plötzlich hinter mir
schnelle Schritte. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, um nach zu
sehen, wer da vielleicht noch vom Fest aus durch den Wald nach
Hause wankt, sprang mir plötzlich dieser Jemand ins Kreuz,
hielt sich an mir fest und blieb "huckepack" auf meinem
Rücken hängen. Natürlich dachte ich zuerst an einen
schlechten Scherz meiner Freunde. Sie hatten mich bestimmt heimlich
verfolgt und wollten sich totlachen, wenn ich vor Schreck anfinge
zu schreien oder mir in die Hose mache würde! "Na Klasse!
Toll gemacht von Euch!",rief ich also in den Wald, noch immer
meine Last auf dem Rücken tragend, ohne erkennen zu
können, wer es denn nun war. Ich bekam keine Antwort. Da mir
mein Gast auf dem Rückenaber nun langsam zu schwer wurde und
ich keine Lust hatte, auch noch mit ihm zu stolpern und meine
Kleidung zu verdrecken, versuchte ich die Last abzuschütteln.
Wer immer es auch war,er klammerte sich mit einem unheimlich festen
Griff an mir fest und sagte kein einziges Wort. "Na gut, ihr
habt mich zu Tode erschreckt. Ich zittere vor Angst. Ihr könnt
euch jetzt zeigen!", rief ich erneut in den dunklen Wald, ohne
jedoch Antwort zu bekommen. Da mein Passagier immer noch nichts
sagte, versuchte ich, ihn zum Reden zu bringen. "Wer bist du?
Was soll das?", fuhr ich ihn an. Keine Antwort. Soweit ich
mich umdrehen konnte –daran, ihn abzuschütteln war immer
noch nicht zu denken– erkannte ich jedoch einen Mann von
vielleicht 60 Jahren mit einer Bekleidung, die mehr als nur
altmodisch war. Er trug einen weiten Umhang und einen
breitkrempigen Hut, der fast sein ganzes Gesicht verdeckte. Er
schien mich und meine Anstalten ihn loszuwerden gar nicht zu
beachten! Ich war jetzt auf 180! "Sofort los lassen! Jetzt
reicht's aber!", rief ich und schüttelte mich wie
wild hin und her. Kein Erfolg. Der Kerl saß immer nochfest
wie angewachsen und sagte keinen Ton. Von meinen Freunden, die ich
ja anfangs hinter der ganzen Sache vermutete, war nichts zu
entdecken. So langsam wurde mir das alles unheimlich und ich
beschleunigte meinen Schritt trotz der Last, um wenigstens aus dem
Wald heraus zu gelangen. Vielleicht war in Faid ja noch jemand so
spät unterwegs, der mir helfen könnte – oder die
Lichter des Ortes würden den Mann auf meinem Rücken
vertreiben!
Als ich noch nicht ganz aus dem Wald herausgetreten war, war
meine Last plötzlich verschwunden. Obwohl ich mich sofort
umdrehte, sah ich nichts mehr von meinem unheimlichen Begleiter. Es
knackte noch ein paar mal etwas weiter entfernt im Unterholz, dann
war Ruhe. Ich setzte meinen Weg nach Hause fort und grübelte
darüber nach, ob ich vielleicht so betrunken war, daß
ich mir das alles nur eingebildet hatte. 'Nein. So viel hast du
nun wirklich nicht getrunken', dachte ich noch, bevor ich dann
endlich zu Hause im Bett lag und einschlief.
Nach ein paar Tagen war ich der festen Überzeugung, mir das
alles nur eingebildet zu haben. Eines der Bierchen auf dem Fest war
wohl schlecht gewesen... Zwei Wochen später fand in unserem
Ort die Kirmes statt. Nach dem Festumzug setzte ich mich mit meinen
Freunden in das Festzelt und wir hörten der Blasmusik zu und
erzählten uns dies und das. Am Nachbartisch saßen ein
paar ältere Männer bei ihrem Bier und unterhielten
sich– infolge der Musik und ihrer vereinzelten
Schwerhörigkeit – so laut, daß ich fast alles
mithörten konnte. "Ja, ja. Lügen haben kurze
Beine!",rief einer von ihnen – worüber sie gerade
redeten,wußte ich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt leider
nicht. "Und der alte Scheffe springt dir auf den
Buckel!", entgegnete ein anderer und alle lachten laut los.
Wie? Was? Wer springt hier wem auf den Rücken? Ich zuckte
zusammen, plötzlich dachte ich wieder an mein Erlebnis im
Wald. Ich tat, als wäre nichts geschehen und wandte mich
wieder meinen Freunden zu.
Als es später wurde, löste sich die gesellige Runde
der alten Männer allmählich auf. Gegen 23 Uhr war nur
noch der 72jährige Willi Schmitz übrig, der wohl noch ein
wenig der Musik lauschen wollte. Ich bestellte zwei Bier und trat
an seinen Tisch. "Darf ich mich zu euch setzten?", sprach
ich ihn an und er nickte. Als unsere Gläser gebracht wurden
fragte er,wie er denn zu der Ehre käme, eingeladen zu werden.
"Ich habe eine Frage an dich, und ich hoffe du kannst sie mir
beantworten.", sagte ich ihm geradeheraus. "Aber gerne
doch. Wenn ich für jede Frage, die du mir stellst, ein Bier
bekomme, können wir noch lange sitzen bleiben!", lachte
er. "Ich habe eben zufällig gehört, wie einer an
eurem Tisch sagte,daß jemandem der alte Scheffe auf den
Buckel springen würde und darauf alle gelacht haben. Was hat
es mit diesem Spruch auf sich?", fragte ich Willi Schmitz.
"Ach, das ist ein alter Spruch, wenn jemand schwindelt. Den
gibt's auch nur in Faid und Gevenich soweit ich weiß. Was
ein Scheffe ist, weißt du doch hoffentlich?" Ich nickte.
"Scheffe" ist die volkstümliche Bezeichnung für
den Bürgermeister und stammt wohl ursprünglich von dem
heute noch gebräuchlichen Wort "Schöffe" ab,
was aber einen Beisitzer bei Gericht meint. "Nun, das ist eine
alte Geschichte vom Ende des 17. Jahrhunderts. Mir hat sie meine
Großmutter vor nun bestimmt schon 65 Jahren erzählt. Die
meisten älteren Leute im Ort kennen sie noch – aber ihr
jungen Leute...""Bitte! Erzähle sie mir!", fast
flehte ich ihn an. Jetzt war ich neugierig geworden. Er fuhr fort
zu erzählen. Im Jahr 1686 gab es einen Streit zwischen den
Gemeinden Faid und Gevenich um ein kleines und eigentlich
unbedeutendes Stück Wald, welches auf der Grenze zwischen den
beiden Gemarkungen gelegen ist. Der Streit kam auf, als ein
Gevenicher Bürger das Geweih eines kapitalen Hirsches in
diesem Waldstück fand und mit nach Hause nahm. Es stammte von
einem seltenen Zwölfender und sollte über dem Eingang der
Gevenicher Amtsstube angebracht werden. Ein Mann aus Faid jedoch
hatte dies gesehen. Er forderte das Geweih für seinen Ort ein,
da es ja – seiner Ansicht nach – auch im Faider Wald
gefunden worden sei.
Die Bürgermeister und die Pfarrer beider Orte wurden zur
Schlichtung herbei gerufen, ohne jedoch, daß es zu einer
Einigung kam. Auch in den Unterlagen über die Grenzen und
Besitztümer der Gemeinden fand sich nichts, was die
Zugehörigkeit des kleinen Waldstückes festlegte. Da aber
nun auch keiner der Amtsträger auf die Vergrößerung
seines Ortes – und sei es auch nur um diesen kleinen
Flecken– verzichten wollte, brach ein regelrechter Streit
zwischen den beiden Nachbargemeinden aus, der über Wochen
andauerte.
Als dies nun in der Kreisstadt Cochem bekannt wurde, setzte der
Amtsrichter Cornelius einen Ortstermin an dem betreffenden
Wäldchen an, an dem die Beteiligten ihre Besitzansprüche
vortragen sollten. Nach den vorgebrachten Argumenten, werde er dann
entscheiden, zu welchem Ort der Wald gehöre, oder ob er
zwischen beiden Orten aufgeteilt werde.
Zum verabredeten Zeitpunkt trafen sich also Richter Cornelius,
die Pfarrer beider Orte, der Faider Bürgermeister Clemen
sMühlen und auch viele einfache Leute aus Faid und Gevenich im
Wald. Nur Hieronimus Kessler, der Scheffe von Gevenich, war nicht
zu sehen. Er hatte sich wohl verspätet und so wartete man noch
ein wenig auf sein Eintreffen." "Und dann?", gebannt
hing ich an den Lippen von Willi Schmitz. Ich bestellte noch zwei
Bier. Der alte Mann trank einen kräftigen Schluck, sah mich
zufrieden an und erzählte weiter. Als man gerade ohne
Hieronimus Kessler anfangen wollte, die Sachlage zu klären,
erschien der Gevenicher Bürgermeister doch noch. Außer
einem für diesen Anlaß eigentlich unpassenden
großen Zylinder und hohen Reitstiefeln trug er ein geradezu
unverschämtes Grinsen im Gesicht. Der Amtsrichter begann mit
der Befragung der einzelnen Beteiligten. Immer noch wunderten sich
alle über den überlegenen Gesichtsausdruck des Scheffen
Kessler. Er galt als äußerst gerissener Mann. Was mochte
er wohl im Schilde führen? Als nun die Reihe an ihm war, sich
zuäußern, trat er in die Mitte der Menge und sah die
Umstehenden triumphierend an. Er hob die rechte Hand zum Schwur und
sprach mit kräftiger Stimme: "So wahr, wie der
Schöpfer über mir ist, so wahrhaftig stehe ich auch hier
auf Gevenicher Land!"
Der Fall war entschieden. Einem Schwur auf Gott den
Allmächtigen war nichts entgegenzusetzen und so wurde die
Versammlung damit beendet, daß der Protokollführer des
Richters ein Schriftstück aufsetzte, in dem das Waldstück
der Gemeinde Gevenich zufiel.
Da der Herr Scheffe Kessler hier vor angesehen
Leuth seyn hochheylig Schwuhr that,ißt die Streytfrag
gelöset, welcher der zwey Gemeyndendas Stueckchen Wald
zwischen Faid und Gevenich zusteht. Bis zumjüngsten Gerichthe
des allmächthigen Herren also soll eszu Gevenich gehören.
Im Jahre des Herren 1686, am siebzehntenJuley gezeichnet vor
vielerley Zeugen.
stand in der Urkunde, die Richter Cornelius sofort aufsetzen und
unterzeichnen ließ. Zwei Wochen nach diesem denkwürdigen
Tag, erkrankte Hieronimus Kessler schwer. Nur fünf
Tagespäter war abzusehen, daß er diese Erkrankung nicht
überleben würde, obwohl er eigentlich ein Mann mit einer
ungewöhnlich guten Konstitution war. Als der Priester des
Ortes zu ihm gerufen wurde, um dem Bürgermeister ein letztes
Mal die Beichte abzunehmen und dem Todgeweihten die
Sterbesakramente zu geben, machte Kessler diesem ein
Geständnis.
"Ich habe den Herrn geschmäht und verraten mit meinem
unheiligen Schwur. Dies ist die Strafe für alles!",
schluchzte er."Was meinst du, mein Sohn?", fragte der
Pfarrer. "Ihr wart doch dabei, Hochwürden. Der Schwur im
Wald. Ich lästerte Gott vor euer aller Augen und Ohren."
"Wie das?", fragte der Geistliche, der den Schwur ja
selbst erlebt hatte. "Erinnert ihr euch an den Zylinder den
ich trug? Unter ihm versteckt hielt ich die Schöpfkelle meiner
Frau – das war 'der Schöpfer, der über mir
ist',", heulte er auf, "und das 'Gevenicher
Landauf dem ich stehe' stammte aus meinem Garten und steckte in
meinen Reitstiefeln...!" Der Bürgermeister starb noch am
selben Tage. Da der Pfarrer ein geschwätziger Mann war und das
Geständnis Kesslers nicht während der Beichte fiel,
machte die List des Gevenicher Scheffen schnell die Runde. Obwohl
einige Bürger aus Faid diesen nun anfechten wollten, blieb der
Rechtsakt über den Wald bis in die heutige
Zeitgültig.
Die Geschichte von dem unheiligen Schwur des Bürgermeisters
wäre wohl vergessen worden, wenn ihn nicht einige Leute in den
folgenden Jahren in eben diesem Waldstück gesehen haben
wollten. Den Aussagen dieser Zeugen nach, versuche sein Geist
dieses Stück Wald zu durchqueren, ohne einen Fuß auf den
Boden zu setzen. Er springe dann einfach jemandem auf den
Rücken und lasse sich tragen. Daher auch dieser Spruch, mein
Junge." Willi Schmitz trank erneut und lachte mich an. Ich
bedankte mich bei ihm und ging bald darauf nach Hause. Die Kirmes
war jetzt für mich beendet und das Waldstück zwischen
Faid und Gevenich habe ich seitdem nie mehr betreten. . .
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